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Titel
Archivkultur. Bausteine zu ihrer Begründung


Autor(en)
Schenk, Dietmar
Erschienen
Stuttgart 2022: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
214 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Brademann, Archiv der Evangelischen Landeskirche Anhalts, Dessau

Dietmar Schenk ist im Kreis deutscher Archivarinnen und Archivare wohlbekannt. Er darf als ausgewiesener Kenner seines Fachs gelten. Er hat zum einen seit 1991 das Archiv der Universität der Künste Berlin aufgebaut, zum anderen profunde Texte zum Archivwesen vorgelegt, in die seine Praxiserfahrungen ebenso eingeflossen sind wie archiv- und geschichtswissenschaftliche Ansätze. Nach Büchern zur Theorie des Archivs (2008, 2. Aufl. 2014) und zur Archivgeschichte (2013) legt er nun ein weiteres Buch zur Archivkultur vor. Der Titel weckt die Hoffnung, dass der terminologische einem konzeptionellen Dreischritt entspricht: von der fachwissenschaftlichen Normativität über die historische Faktizität hin zur gesellschaftlichen Praxis des Archivischen.

In der Tat nimmt Schenk in elf Kapiteln „archivische Kulturtechniken“ (S. 8) als weit über die Archivmauern verbreitete Phänomene in den Blick. Schon in der Einleitung wird allerdings klar, dass sich hinter „Kultur“ kein Konzept verbirgt, sondern die Tatsache, dass er in den letzten zwanzig Jahren viele Texte (Vorträge und Aufsätze) produziert hat, die sich mit der Verbindung zwischen Archiv und Welt befassen und die hier, ergänzt um zwei neue Texte, in einem Sammelband zusammengeführt sind.

Im ersten Abschnitt „Archive, ganz alltäglich“ sind drei Aufsätze zusammengefasst. Zunächst werden die Gemeinsamkeiten zwischen Welt und Archiv betont, indem die Briefe von Vorfahren einer Familie und die Registratur einer Akademie der gleichen „Kultur des Archivierens“ zugeordnet und als „Archive“ eingestuft werden, die in einem „historischen Archiv“ aufbewahrt werden. Im dann entworfenen Bild des Archivs – also eines „historischen Archivs“1 – als einer „Schatzkammer“ tritt hingegen das Unerwartete, das die Welt Überraschende, das sich in Magazinen zutage fördern lässt, in den Vordergrund. Der Funktion von Archiven zwischen den damit angedeuteten Polen „Instanz der Kritik“ und „Bestätigung dessen, was man schon weiß oder denkt“ (S. 51), widmet sich der dritte Aufsatz.

Die fünf Beiträge des zweiten, „Archivarische Konzepte und die Archivwissenschaft“ überschriebenen Abschnittes diskutieren bekannte Probleme: Das Provenienzprinzip sorge dafür, dass ein Archiv – anders als eine Sammlung – „durch eine vorgängige Struktur charakterisiert“ bleibe (S. 66), in der sich Spuren der Vergangenheit fassen lassen. Im Hinblick auf die Bewertung sträubt sich Schenk gegen das die Überlieferung aktiv steuernde archivische Konzept der Dokumentation, um schließlich für eine Mischung von formalen, auf den Entstehungskontext von Unterlagen abhebenden, und inhaltlichen Kriterien bei der Bewertung zu plädieren. Die archivische Verzeichnung und ihre auf die Konservierung bestehender Zusammenhänge zielende Behutsamkeit und Fallbezogenheit möchte Schenk im nächsten Schritt gegen die (vor allem durch Datenbanken und Normdaten begünstigte) Tendenz zu nivellierenden Eingriffen schützen. Bevor er abschließend für eine Erweiterung und stärkere Theoretisierung der Archivwissenschaft plädiert, stellt er ein Konzept der „dialogischen Archivarbeit“ (S. 106) vor. Archivische Praxis befähige auch zur Demokratie: Archive fördern Kritik als Tugend und Kompetenz, indem sie mit ihren Beständen Geschichte als „unabgeschlossenen Prozess historischer Erkenntnis“ repräsentieren (S. 118) und wenn sie trotz der Digitalisierung die Kommunikation vor Ort im Blick behalten. Hieraus folgt ein „Lob der kleineren Archive“: Sie seien „den Menschen nahe und erfüllen wichtige Aufgaben als Knotenpunkte im Netzwerk der Kommunikation über die Vergangenheit“ (S. 116).

Die drei Aufsätze unter der Überschrift „Archive in unserer Zeit“ widmen sich dem Phänomen der Macht, das sich in der Geformtheit von Archiven ausdrückt (wobei Archivare aus Schenks Sicht eher keine Macht haben sollten) sowie der Spannung zwischen dem Recht auf Vergessen (durch informationelle Selbstbestimmung) und der Faktizität von Geschichte, die ohne Aufbewahrung nicht auskommt. Am Schluss des Buches bricht Schenk eine Lanze für die „regionale Archivkultur“, indem er im Anschluss an Jeannette Bastian für das „Kontextprinzip“ als Ergänzung zum Provenienzprinzip plädiert, damit Archivalien und Menschen beisammen bleiben.

Den Einzelbeiträgen ist anzumerken, dass sie aus verschiedenen Stadien und Kontexten des Berufslebens ihres Autors stammen, die sich schwer auf einen Nenner bringen lassen.2 Auch innerhalb der Texte fehlt es manchmal an Stringenz. Schenk referiert und reflektiert, manchmal auch mit unterkomplexen Prämissen3; sehr häufig verwendet er Konzessivgefüge, ohne dass immer klar wird, worauf seine Einwände und Ergänzungen hinauslaufen. Mit den Veränderungen, die die digitale Revolution für Archivwissenschaft und -kultur mit sich bringt, setzt Schenk sich nur beiläufig auseinander.4

Schenk will darauf aufmerksam machen, dass Praktiken des Archivierens verbreitet und wichtig sind, da sie das für Menschen, Gruppen, Organisationen und Gesellschaften lebensnotwendige Geschichtsbewusstsein stärken, ja überhaupt erst ermöglichen. Archive sichern Fakten, die immer wieder neu in kritische Geschichtsforschung einzubetten sind, und dazu gehört auch die möglichst weitgehende Konservierung der „vorgängigen Strukturen“, in die die Schriftstücke eingebettet sind. Archive dürfen daher weder als Verwaltungsinstitutionen, noch informationstechnisch konfigurierte Datenspeicher missverstanden werden. Das Verdienst des Buches liegt darin, dass es das Archivieren und damit die wesentliche Grundlage von Geschichte und Erinnerung dorthin setzt, wo sie wirkt, ohne dass es auffällt: in das richtige Leben. Es macht die Funktionsweise und Legitimität von Archiven auch für Laien verständlich und versucht gerade dadurch, die Archivkultur (als etwas Reflexives) zu stärken. Darauf dürfte auch der Untertitel mit seiner Mischung aus Bescheidenheit und Ambition abheben. Archivare würden sich überheben, wenn sie versuchen wollten, gegen die Enthistorisierung unserer Kultur anzuarbeiten. Ihre eigene Arbeit, die auf das menschliche Grundbedürfnis nach Sinnbildung durch Zeitverläufe gerichtet ist, noch anschaulicher zu machen, könnte dennoch entsprechende Effekte zeitigen.

Anmerkungen:
1 Durch die Ausweitung des Archivbegriffs ist nicht immer klar, um welche Art von Archiv es sich gerade handelt.
2 Ein größerer Widerspruch ist erkennbar, wo Schenk einerseits von Archivarinnen und Archivaren im Überlieferungsprozess Neutralität und Bescheidenheit, ja Passivität, fordert (siehe vor allem S. 146–148), er andererseits „den Gewinn aussagekräftiger Bestände“ und damit das „archivische Sammeln“ als Teil einer „integralen Archivarbeit“ herausstellt (S. 118). Ersteres dürfte auf einer von ihm favorisierten objektivistischen (gegen Ideologien immunisierten) Begründung von Geschichte beruhen – sie wird in seinem Buch zur Archivtheorie sehr deutlich –, während letzteres in seiner Berufserfahrung als „Sammlungsarchivar“ begründet liegt. Es wäre schön gewesen, beide Annahmen miteinander zu konfrontieren, anstatt auf Selbstüberlistung zu setzen: „Man kümmert sich gar nicht um die Vermehrung des Archivguts, gewinnt aber trotzdem interessante Bestände.“ (S. 120)
3 Bestes Beispiel ist das Insistieren auf der Wahrheit als Ziel archivarischen Handelns (S. 151–155). Ausgangspunkt sind konstruktivistische Positionen, die archivische Überlieferung als gemacht und die Wahrheit von Geschichte als relational begreifen. Darüber, dass historische Wahrheit kulturell, von ihrer Zustimmungsfähigkeit abhängig ist, davon, dass es einer Geschichte gelingt, Glaubwürdigkeit zu begründen (wofür es in der in Deutschland anerkannten Geschichtswissenschaft einen klaren Kriterienkatalog gibt, der auch Quellenbasiertheit enthält), will Schenk durchaus nichts wissen: „Wenn man sich auf den Begriff der ‚relativen‘ Wahrheit einlässt, liefert man sich letztlich dem Zwang der Macht aus.“ (S. 154) Archivare müssen „Tugenden der Wahrhaftigkeit“ (Bernard Williams) verpflichtet bleiben, und Archive bieten die wichtigste Möglichkeit, die zur Wahrheit nötigen Fakten zu sichern. Wer aber würde dies ernsthaft bestreiten wollen?
4 Auf S. 158f. geht er kurz ein auf das – im gleichen Verlag erschienene – Buch von Christian Keitel, Zwölf Wege ins Archiv. Umrisse einer offenen und praktischen Archivwissenschaft, Stuttgart 2018 (vgl. die Rezension von Peter M. Quadflieg, in: H-Soz-Kult, 19.04.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28007). Obschon dies einer grundlegenden Neuorientierung des Archivwesens auf der Basis von „Informationen“ anstelle von „Unterlagen“ das Wort redet, stellt Schenk fest: „Die digitale Revolution wird die Archivkultur modifizieren, aber nicht in ihren Grundlagen berühren.“

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